Wenn schon schämen, dann richtig!

Ein Beitrag von Marco Helmert.

Die Bundestagswahl ist vorbei und ich bin immer wieder erstaunt, wie überrascht, entsetzt und ungläubig viele nun auf das Wahlergebnis der AfD schauen, als wäre es aus heiterem Himmel gekommen.

Im ersten Reflex wird sich jetzt viel distanziert, fremdgeschämt und eilig betont, wie weit weg doch der eigene Wohnsitz von der richtig braunen sächsischen Flanke gelegen ist.
Nun hat es mancher auch ganz eilig, das eigene Umfeld beispielsweise auf Facebook zu überprüfen, um Sympathisanten der „braunen Suppe“ aus den eigenen Freundeslisten zu tilgen und auch andere Freunde darauf hinzuweisen, wenn diese noch irgendwelche „von denen“ in ihren Listen haben. Man gehört ja schließlich zu den Guten und müsse nun Farbe bekennen.

Also schäm‘ dich Erzgebirge, schäm‘ dich Sachsen, schäm‘ dich Deutschland!!!

Mir ist dieses ganze Schämen und Fremdschämen im Moment ein wenig zu einseitig und ich möchte hiermit anregen, es noch etwas zu erweitern:

1. Lasst uns beschämt darüber sein, wie einseitig polarisierend die Debatten- und Kommunikationskultur in den letzten Jahren in unserem Land geworden ist, wo es gefühlt nur noch zwei Positionen gab, die man einnehmen konnte; entweder die politisch richtige,- korrekte und damit „gute“ oder eben die rückständige, ausgrenzende Position „der Menschen mit der Kälte im Herzen“, die Meinung der „Mischpoke“ und „des Packs“, die wie man uns immer wieder (bis heute) erklärte „nicht das Volk sind“. Obwohl „die“ stellenweise in einigen Wahlkreisen als klare Sieger hervorgingen.

Die politischen Entscheidungen der letzten Jahre waren und sind eben oft alternativlos, wie man uns ebenfalls nicht müde wird zu erzählen.
Berechtigte und unberechtigte Sorgen vieler Menschen holte man damit nicht ab, sondern labelte sie pro Forma erst einmal als „rechts“. Aus der Gruppenpsychologie- und dynamik wissen wir, dass wenn die Alpha Position innerhalb einer Gesellschaft schwierige und heikle Themen tabuisiert, verdrängt und auf „die“ also die Schmuddelkinder projeziert, sie damit immer diese Omega Positionen innerhalb einer Gesellschaft stärkt, wo dann das Tabu in potenzierter Form wieder aufersteht. Dort wo zum Beispiel Frau Merkel bemüht schien, bestimmte Fragen, Themen und Probleme ständig in beschwichtigend hypnotisierender Manier herunterzuregeln, wurden sie an anderer Stelle umso stärker in ekelerregender und abstoßender Form am Lautstärkeregler wieder aufgedreht. Wer nur ins Licht schauen will, den holt der schwarze Mann scheinbar von hinten. So gesehen rächt sich jetzt auch das ideologisch einseitige gezeichnete Bild des hilfebedürftigen Flüchtlings, was in der Realität eben auch andere Wahrheiten verdrängt hat. In meiner Beobachtung schienen dann selbst viele wirklich ehrlich bemühte Menschenfreunde und Humanisten genau den Rassismus, die Homophobie, die Entwertung Andersdenkender, das überholte Welt/Familienbild usw. welche sie mit dem Vergrößerungsglas bei „AfD und co.“ kinderleicht ausmachen können bei „den Flüchtlingen“ generell nicht mehr wahrnehmen zu können, selbst wenn er sie dort partiell auch hier und da regelrecht ansprang. Auch hier ist es für das Gefühl des eigenen „Gut-seins“ scheinbar entspannter, pauschal das Bild des hilfebedürftigen Flüchtlings im Vergrößerungsglas des eigenen Aufmerksamkeitsfilters zu haben, wie es für den anderen Pol immer wichtiger wurde, von marodierenden, plündernden und brandschatzend/vergewaltigenden Invasoren zu fantasieren. Die Wahrheit ist aber wie immer komplex und liegt wie so oft irgendwo dazwischen und ist von Fall zu Fall verschieden und damit auch verschieden zu betrachten. Da ich seit etlichen Jahren selbst Seminare zur kultursensiblen Betreuung und Integration von Patienten mit Migrationshintergrund gebe, kenne ich mich mit dem Islam und dem Islamismus auch ein wenig aus. und JA es gibt da schon AUCH ein anwachsendes Problem mit der Radikalisierung und dem Unterwerfungsanspruch der Ungläubigen, neben der AUCH zigfach friedlichen Varianten.
Wer derlei Themen aber in der jüngeren Vergangenheit differenziert ansprechen wollte, landete immer häufiger in der Schublade des „rechten Spektrums“, woraus ihn dann später durchaus AUCH die wahren Vertreter, die sich diesen Namen noch „redlich“ verdient haben, schon mit offenen Armen abholen und begrüßen wollten. Leider hat diese einseitige und ideologisierte Politik der letzten Jahre AUCH eine große Aktie am jetzigen Rechtsruck des Wahlverhaltens, weil sie das Thema Radikalisierung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nur im rechten Spektrum wahrnehmen wollte und das Auftreten selbiger in anderen Spektren thematisch einzig der „AfD und co.“ überließ. Diese Politik übernahm nun natürlich auch unbewusst viele Menschen, die sich damit zu „den Anständigen“ zählen, eigene Schatten auf Kritiker projezieren, selbige pauschal labeln- und sich zumindest großräumig in der bereits erwähnten ideologisierten, realitätsfernen „wir schaffen das“ Instant-Integrations-Trance ent-differenzieren konnten.
Keinesfalls darf man den beschriebenen Mechanismus nun aber verallgemeinernd zur Entwertung und Bagatellisierung der vielen freiwilligen Flüchtlingshelfer verwenden, welche ankommenden Menschen beistehen und sie würdevoll und empathisch begleiten.

2. Möchte ich anregen, dass sich aktuell bitte nicht nur wegen der vielen AfD Wähler geschämt wird und ich frage mich, warum sich die fleißigen und eifrig postenden Fremdschämer von heute nicht in gleicher Lautstärke in dem letzten Jahren für die Politik der Etablierten geschämt haben.

Zum Beispiel für die Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen, die nicht vom Völkerrecht gedeckt waren, die aggressive Drohpolitik gegen Russland inkl. der Verletzung der Nato Russland Grundakte. Oder mit provokanten Nato Manövern, z.B.: an der Weichsel, wo sich im 2. Weltkrieg die Rote Armee erbitterte Panzerschlachten mit der Wehrmacht geliefert hat. Oder für die tausenden Drohnenmorde unschuldiger Zivilisten, von deutschen Boden über die US Drehscheibe in Ramstein aus gesteuert. Oder für die Erhöhung der Waffenexporte bspw. nach Saudi Arabien, welche oft genug zuletzt auch direkt beim IS gelandet sind. Oder für das Bagatellisieren und Kungeln mit den ukrainischen Nazis innerhalb dortiger Regierungskreise. Oder für das Weiterführen einer Geldsystem- und Wachstumswahnpolitik, die immer mehr Menschen in sozial bedenkliche Situationen getrieben- und damit die Schere zwischen arm und reich weiter geöffnet hat. An der Stelle hätte ich mir einige der heutigen Fremdschämer lautstark ihre Scham verkündend an die Seite gewünscht.

3. Schäme ich mich in Moment selbst massiv für die vielen Aufrufe angeblicher Demokraten und Menschenfreunde, die jetzt zu „seek and destroy“ aufrufen und AfD Sympathisanten in Freundeslisten ausfindig machen- und kennzeichnen wollen, laut und aggressiv und voller Hass gegen selbige vorgehen und sogar Labeling Mechanismen vorschlagen für die Kleidung von AfD Wählern, damit sie auch jeder gleich erkennen kann. Aufrufe, „denen“ keine Öffentlichkeit mehr zu geben und sie aus Gaststätten, Einrichtungen, beruflichen Kontexten usw. auszuschließen sind keine Seltenheit mehr. Frau Ditfurth bereut angesichts des Wahlausgangs ja schon, dass Dresden wieder aufgebaut worden ist und allzu oft wird dieser Tage zum Beispiel Sachsen auch populistisch einseitig pauschalisierend und undifferenziert in (braune) Sippenhaft genommen, von „Demokraten“ die anderen Ortes dann Schilder mit „weltoffen und tolerant“ und „kein Mensch ist illegal“ in die Luft halten. Der „braune Sachse“ ist nun scheinbar schon auch irgendwie illegal geworden, wie mir scheint. Bei all den Vorschlägen fehlt mir jetzt eigentlich nur noch der Slogan „kauft nicht bei AfD-Wählern“, dann wäre mein Fremdschämen perfekt.
All das ist nämlich AUCH gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, ihr lieben „Wahrer der Anständigkeit“ und wenn ihr es mit eurem Humanismus ernst meint, dann kann auch der AfD Wähler nicht illegal sein oder?

Nun werden neben dem Schämen außerdem auch wieder alle anderen bekannten Rezepte ausgegeben: Distanzieren, ignorieren, bekämpfen, Gegenkulturen aufbauen und die eigenen Argumentationsketten trainieren. Ab heute wird also wieder zurück-gejagd !!!
Hat in der Vergangenheit ja auch super funktioniert.

Auch für mich ist die AfD unwählbar gewesen, aber sie ist eben AUCH der Symptomträger einer irrealen, ideologisch, polarisierenden Kommunikationskultur unserer maroder werdenden Demokratie und sozialfeindlichen Gesellschaft geworden und hat damit gruppendynamisch als Omega wohl auch ihre Berechtigung. Jetzt wird man sehen, ob dieser tiefere Mechanismus durchschaut und aufgelöst werden kann und in allen Debatten wieder die Differenzierung Einzug hält oder ob es beim „weiter so“ bleibt.
Frau Merkel scheint den Mechanismus leider noch nicht zu verstehen und redet sich die Watsche bereits wieder als Sieg zurecht. Ein Herr Schulz ist mit seiner Absage an die GroKo da eventuell schon einen Schritt weiter bzw. näher am notwendigen Reset Knopf hin zu einer wirklichen Veränderung.

Ganzheitliche differenzierte Betrachtung aller Aspekte brauchen wir nun also um so dringender und wir müssen versuchen, alle Menschen dort abzuholen, wo sie sind, in ihrem jeweiligen Kontext, mit ihren jeweiligen Ängsten, denn hinter jedem Konstrukt – selbst dem rassistischen – steckt immer noch eines…..ein Mensch.

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