Worauf warten wir noch?
Ein Gastbeitrag von Thomas V Weiss.
Um es kurz zu machen (obwohl, es wird eh wieder elend lang), ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: Wir haben gewaltige Probleme. Na ja, das ist jetzt nicht so neu, aber nach dem gestrigen Wahlergebnis juckt es mich wieder mal förmlich in den Fingern, etwas dazu zu schreiben.
Wie fast überall, so hatte man auch in Frankreich wieder mal nur die Wahl zwischen einem neoliberalen, globalistischen Kandidaten und einer reaktionären, nationalistischen Gegenkandidatin. In den Zeitungen war heute zu lesen, der „Europafreund“ habe gewonnen und Europa könne aufatmen. Wenn’s doch nur so wäre. Macron ist genau so wenig ein „Europa-Freund“ wie Le Pen eine Freundin von Zuwanderung ist. Er ist auch nicht linksliberal, wie das gerne behauptet wird. Er ist Investmentbanker und dient dem Neoliberalismus, dem sich die EU verschrieben hat. Der Neoliberalismus zerstört Europa, die EU zerstört Europa. Leider glaubten aber wieder Viele, dass sie mit ihrer Stimme für Macron die rechte Bewegung verhindern könnten. Ein fataler Irrtum. Denn genau jene Politik, die er vertritt, ist der beste Nährboden für nationalistische Bewegungen. Man kann also getrost sagen, dass man mit seiner Stimme für Macron in Wahrheit die fremdenfeindliche Gegenpartei gewählt hat, nur etwas Zeit verzögert. Was ist das überhaupt für eine Politik, die sich fast nur noch auf das Verhindern anderer beschränkt?
Aber zurück zum eigentlichen Problem. Was ist überhaupt der Neoliberalismus? Er ist ein Gespenst, fast unsichtbar, eine Extremform des Kapitalismus. Er ist das System völlig freier Märkte, deren Dynamik als Naturgesetz gesehen wird. Es wird uns vorgespielt, wir lebten in Demokratien, was aber nicht der Fall ist, da es sich um Repräsentative Demokratien handelt, bei denen die gewählten oder auch nicht gewählten (z.B.: Kern) Politiker in aller Regel nicht uns, sondern den Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals, wie Jean Ziegler sie nennt, dienen. Der Neoliberalismus nährt sich von Krisen und der Spruch sozialistischer Linker, der Kapitalismus brauche Krieg, ist nur zu wahr. Wir sehen das unter anderem an den militärischen Interventionen europäischer Staaten in anderen Ländern, in denen nicht, wie man vorgibt, Demokratie importiert wird, sondern Regime aus dem Weg geräumt werden, die bei der Ausschlachtung ihrer Länder durch Investoren nicht mitmachen wollen. Wollte man wirklich so lieb sein und Demokratie bringen, wäre das ohne Waffen ehrlicher und man würde vielleicht mit dem besten, ja allerbesten Bündnispartner Saudi Arabien, der Hochburg des Mordes und des staatlichen Verbrechens, beginnen. Aber Freunde vergrämt man nicht.
Der Neoliberalismus sorgt stetig für eine Umverteilung von Fleißig zu Reich und so ist es nicht verwunderlich, dass es nur noch 8 Personen sind, die so viel Kapital wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzen. Der freie, radikale Markt sorgt auch für das gleiche Resultat bei den Konzernen. Es sind 10 Konzerne, die 85% des weltweiten Lebensmittelhandels kontrollieren. Der Neoliberalismus ist die Triebfeder der Großkonzerne, der Banken, der Hedgefonds und der Investoren. Selbst die Medien folgen seinen Richtlinien und hüten sich davor, etwas über ihn Preis zu geben.
Wahrscheinlich ist es aber der größte Trick des Neoliberalismus, dass er den Menschen seiner eigenen Selbständigkeit und seiner grundlegenden Anlage seiner intrinsischen Kompetenzen beraubt hat. Er nimmt den Menschen die eigene Identität und ersetzt sie durch marktkonforme Anlagen. So glaubt man etwa, man wäre heutzutage frei wie nie, merkt dabei aber nicht, dass man Opfer des eigenen Konsums geworden ist. Man glaubt, beim Einkaufen eine schier unendlich große Auswahl zu haben, ist aber in einem Kontingent von Waren der größten Konzerne gefangen. Kleinbetriebe werden kaputt gemacht, Großkonzerne belässt man in Steueroasen und subventioniert sie. So wird auch die Maschinerie der Tierausbeutung subventioniert und die EU diskutiert gerade wieder über die Verlängerung der Zulassung für Glyphosat. Monsanto reibt sich die Hände und reicht als Draufgabe gleich die nächsten Patente auf Gemüsearten ein. Dass durch Glyphosat und Neonicotinoide die Insekten massenhaft sterben, stört doch weder eine EU noch einen Großkonzern wie Bayer/Monsanto. Ein befreundeter Konzern bastelt schon fleißig an Mikrodrohnen zur Bestäubung. Oder man setzt Menschen dafür ein, in China tut man das bereits. Nur am Rande: In manchen Gegenden Deutschlands sind die Insektenpopulationen in den letzten Jahren um bis zu 90% zurück gegangen und mit ihnen die Vögel. Wann sind wir dran?
Aber den Konsumenten im Tiefschlaf stört das nicht, solange er sein mit Chemie verseuchtes Schnitzel hat und sich sein tägliches, obligatorisches „Ey, du Schlampe, bleib stehen, isch red mit dir“ auf RTL 2 reinziehen kann. Panem et Circenses in Reinkultur. Auch das ist Neoliberalismus. Die Menschheit soll verblöden, sich gegenseitig in Schubladen stecken und sich hassen. Ja nicht um die Ursachen kümmern. Mit Rechts und Links ist man eh genug beschäftigt. Und dann gibt es da noch die Zuwanderer, über die man schön herziehen kann. Dass auch sie nur Opfer sind und sich gar nicht erst zu uns aufmachen würden, wenn Spekulanten nicht ihre Grundnahrungsmittel unleistbar machen würden und wir nicht unsere freundschaftlichen Waffenlieferungen an Länder wie Saudi Arabien tätigen würden, bleibt leider völlig im Hintergrund. Aber auch die Tiere sind im Neoliberalismus nichts anderes als Ware und die Methoden ihrer Ausbeutung nehmen immer perversere und grausamere Formen an.
Der Neoliberalismus bedient sich als Form des Kapitalismus der Wachstums- und Wettbewerbsökonomie. Dass diese aber, genau wie der Zinseszins, exponentiell verläuft, stört herzlich wenig. Wenn man mit dem Wachstum nicht nachkommt, werden neue Schulden gemacht, andere Länder ausgebeutet, Löhne gesenkt, Sozialleistungen abgebaut oder einfach neues Giralgeld gedruckt. Giralgeld macht ca. 97% des gesamten Geldes auf der Welt aus und wird meist in privaten Banken aus dem Nichts heraus geschaffen. Da aber natürlich die Zinsen nicht mit geschaffen werden, müssen diese in Form eines weiteres Kredites entstehen. Am Ende bauen sich Schuldenblasen auf, die zusammen mit den Spekulationsblasen ein verdammt explosives Gemisch ausmachen. Und hier sind wir wieder bei den Politikern. Nie sprechen sie diese fundamentale Problematik an und tun stattdessen so, als bräuchten wir nur mehr Wachstum und, na klar, Vertrauen. Weiteres Wachstum ist aber nicht mehr möglich und so ist der Crash vorprogrammiert. Je länger man ihn rauszögert, desto heftiger wird der Knall werden.
Ein weiteres gewaltiges Problem ist die Digitale Transformation, welche als nächste industrielle Revolution gefeiert wird. Wie die vorangehenden Revolutionen wird aber auch sie wieder nur die Reichen und Superreichen glücklich machen. Die große Masse darf sich dafür abrackern oder versinkt in Massenarbeitslosigkeit. Vor dem Aspekt der Überwachung oder gar der digitalen Versklavung hat unter anderem der Sozialpsychologe Harald Welzer mehrfach gewarnt. Wer meint, er habe in Anbetracht eines implantierten RFID-Chip nichts zu befürchten, da er ja nichts zu verbergen habe, wird spätestens dann seine Meinung ändern, wenn es kein Bargeld mehr gibt und eine Partei an der Macht ist, die er weniger bis gar nicht mag.
Wer noch immer nicht glaubt, dass das Gespenst des Neoliberalismus gefährlich ist, sollte sich mit den diversen Freihandelsabkommen mal näher befassen. Diese legen unter anderem fest, dass Konzerne, deren Vertreter anonym und immun bleiben, Staaten verklagen und über vielerlei in absolutistischer Manier diktieren können. Sie sind es, die im Neoliberalismus die absolute Macht haben. Sie und die Reichsten der Reichen, die sie steuern. Manche der Konzerne sind jetzt schon mächtiger und haben mehr Finanzkraft als so mancher mittelgroßer Staat. Wer es bis hierher durchgehalten hat, darf aufatmen. Ich schrieb ja bereits, dass es auch eine gute Nachricht gibt.
Anstatt sich weiter in Rechts-Links – Geplänkel zu verlieren, sollten wir endlich anfangen, Politik aus uns selbst heraus zu machen. Worte wie „Aber man kann doch eh nix ändern“ oder „Was soll ich allein schon tun können“ sind mittlerweile verstaubt und gehören in das hinterste Regal der Bibliothek der Ausreden. Es gibt so vieles, was wir tun können, um aus dieser Nummer raus zu kommen. Wir sind die 99%? Oder 95%? Egal!
Es ist schon sehr viel getan, wenn man auf das Auto verzichtet, wann immer das möglich ist. Tauschvereine, Sharingkonzepte und alternative Währungen gibt es mittlerweile viele, man muss sich nur ein wenig erkundigen. Subsistenzwirtschaft ist ein ganz wichtiger Faktor. Überall gibt es bereits Vereine, die in Form von Kooperativen eigenen Bioanbau betreiben. Der Bauer in der Umgebung hat vielleicht Kartoffeln, Zwiebeln und einen umwerfend guten (oder sauren) Wein. Ethikbanken sprießen wie Pilze aus dem Boden. Der kleine Bioladen oder Greißler freut sich bestimmt, wenn er dich wieder als Kunde gewinnt. Er hat es bitter nötig, denn er wird nicht subventioniert und hat keine Tochterfirma auf der Insel Jersey, wo man vergeblich nach Steuern sucht. Übrigens zahlen wir das, was den Staaten durch die Steuerflucht der Großkonzerne entgeht. Wir zahlen auch die Subventionen mit und auch die völlig unnötige Werbung. Weg vom Investorentum hin zu einer Postwachstums- und Gemeinwohlökonomie wäre ein weiterer erstrebenswerter Schritt. Es entstehen europaweit immer mehr Genossenschaften. Auch sie tun sich oft schwer, unterstützen wir sie. Reparieren wir unsere Sachen und schlagen wir so der geplanten Obsoleszenz ein Schnippchen. Treten wir einem der vielen Vereine bei, die Lebensmittel „retten“, die sonst weggeschmissen werden. Der Irrsinn ist ja eben, dass alle ärmer werden, gleichzeitig aber bis zur Hälfte aller Waren, einschließlich Lebensmittel, weggeschmissen werden. Setzen wir uns dafür ein, dass zum Beispiel überall Obstbäume und andere Nutzpflanzen statt Robinien und Platanen angepflanzt werden. Man stelle sich eine Großstadt vor, in der Menschen aller Kulturen draußen unterwegs sind und anstatt auf ihre Telefone zu starren, gemeinsam Obst ernten, welches gratis ist. Statt Werbeplakaten gäbe es Infos, wie man Obst für den Winter einmacht oder sonstwie konserviert. Schlecht für die Konzerne, gut für die Menschen. Organisieren wir Kultur- und Schüleraustausch mit anderen Ländern, anstatt diese als Feinde zu betrachten. Die Diplomatie und die Politik machen das nicht, wir können es. Auch ich war voriges Jahr in Russland, wo übrigens gefühlt jeder dritte Sender ein Disneychannel ist. Soviel zu der angeblichen „Abschottung“ dieses Landes. Das wichtigste kommt zum Schluss: Reden wir miteinander! Lassen wir es nicht zu, dass die Welt zu einem waffenstarrenden Ort verkommt, an dem sich alle nur noch unversöhnlich gegenüber stehen! Seien wir einfach Mensch und fangen wir endlich an, unseren Hintern zu bewegen, anstatt nur noch enttäuscht und voller Angst vor dem nächsten Tag im neoliberalen Tiefschlaf zu verharren!
Wir bedanken uns an den Autor für das Recht, diesen Beitrag veröffentlichen zu dürfen.
Original-Beitrag: https://www.facebook.com/thomas.weiss.39948/posts/1873212682916926